13. Juni – 26. Juli 2015
BLURRING BOUNDARIES
Flirrende Grenzen in Kunst und Gesellschaft
Eröffnung: Samstag, 13. Juni 2015, 19.30 Uhr
Header: DAAR (Decolonizing Architecture Art Residency) Amina Bech: Lawless Line, 2010
Grenzen sind normalerweise präzise definiert, durch politische oder geografische Linien und besitzen sowohl trennende als auch ein- und ausschließende Eigenschaften. Grenzen sind jedoch auch imaginärer Natur: Sie beruhen auf tradierten Vorstellungen, Vorurteilen und Einbildungen. Die “Grenzen im Kopf” sind, laut dem Philosophen Dietmar Kamper, «unausrottbar». Grenzziehungen definieren sich über Gegensätzen zwischen hier und dort, Bekanntem und Fremdem, Gewohntem und Bedrohlichem, Normgerechtem und Normwidrigen, zwischen Realität und Fiktion.
„Grenzen sind viel mehr als das, was man an Schlagbäumen, Zäunen und Mauern sehen kann. Sie bestehen aus sichtbaren und unsichtbaren Trennlinien“
(Henning Ottmann)
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Mit Beiträgen von:
Adidal Abou-Chamat, DAAR (Decolonizing Architecture Art Residency), Christian Hasucha, Matthias Megyeri, Ivan Moudov, Konrad Mühe, José Palazón, Katrin Ströbel & Mohammed Laouli, Hans Winkler
Special Guest: Am Eröffnungsabend errichtete Hannelore K. Kober eine Grenzstation.
Jeder Besucher/in musste einen Tribut zollen, um durchgelassen zu werden. Foto: © Jonnie Döbele, Stuttgart
Abb.1: IVAN MOUDOV – EXCHANGE OFFICE, Installation in situ
Die Wechselstube des bulgarischen Künstlers Ivan Moudov befindet sich in einem hoch gesicherten Käfig und besteht aus einem Devisenrechner, einer stählernen Kasse und einer digitalen Schautafel, mit den sich täglich verändernden Devisenkursen. Verkauft und umgetauscht werden jedoch nicht internationale Währungen, sondern EUROS aus den einzelnen Mitgliedsstaaten, die der Währungsgemeinschaft der EU angehören. Entgegen der allgemeinen Vorstellung von einer Währungsunion, in der jeder Euro die gleiche Wertigkeit besitzt, zeigt Ivan Moudov wie es um die Kaufkraft des Euros in den einzelnen Mitgliedstaaten tatsächlich bestellt ist. Zur Vernissage wechselt Moudov die Getränkepreise von 2 € gemäß der tatsächlichen «Kaufkraft» der EU-Mitgliedstaaten um. Ein «Apérol Spritz» wird beispielsweise in den hochpreisigen LUX EUR (Index 2,20) umgetauscht, während eine Flasche Bier nach der realen Kaufkraft des griechischen Euro von 0,60 € ungleich billiger zu erwerben ist.
Die in der Ausstellung vertretenen Künstlerinnen und Künstler befassen sich seit einem längeren Zeitraum mit unterschiedlichen Grenzphänomenen, physischen und mentalen Grenzüberschreitungen, die sowohl im ästhetischen, im geo-politischen als auch im gesellschaftspolitischen und (inter)subjektiven Feld angesiedelt sind. In einzelnen Beispielen werden auch rechtliche Möglichkeiten und Limitierungen sowohl zwischen dem Öffentlichen und Privaten als auch im territorialen und zwischenstaatlichen Bereich ausgelotet. Das Grenzprojekt “Granizza” (2004) von Hans Winkler beispielsweise basiert auf der Inszenierung eines Autounfalls, der sich direkt auf dem Grenzverlauf zwischen Deutschland und Polen ereignete. Diese szenische Intervention löste kurzfristig zwischen den beiden europäischen Staaten eine Krisensituation aus, über die scheinbar unlösbaren Fragen nach Recht und Unrecht, über behördliche Zuständigkeiten und Rechtsauffassungen.
Abb.:2 Hans Winkler, Granizza (Borderline between Germany and Poland) 13.8.2004 © HS Winkler
Abb.3: Der Fotograf und Aktivist José Palazón aus der spanischen Enklave Melilla// Marokko erhielt im April 2015 den Ortega y Gasset-Preis in der Kategorie „Bild“. Das Foto des von der EU finanzierten, eingezäunten Golfplatzes in der spanischen Enklave Melilla ging in den letzten Monaten um die Welt als „Symbol der Ungleichheit zwischen Europa und Afrika». Die Fotografie, so die Jury, „spiegelt die enorme Distanz, der wirtschaftlichen und sozialen Erwartungen zwischen zwei Welten“. In der Ausstellung werden neben dem melillesischen Golfplatz weitere Fotografien von José Palazón zu sehen sein.
Abb.4: Adidal Abou-Chamat, Dreaming on …2014
Auswahl aus der 12-teilige Fotoserie C-Print auf Aludibond, verschiedene Maße
Die Fotografien und Videoarbeiten der Künstlerin und Ethnologin Adidal Abou-Chamat thematisieren das Fremdsein und das Anderssein sowie die Suchbewegung nach der eigenen kulturellen Identität. Ein Antrieb für dieses spezielle Themenfeld mag in ihrer persönlichen Geschichte liegen, ihrem eigenen Grenzgängertum zwischen dem mitteleuropäischen und dem arabischen Kulturraum. Dieses Dazwischensein öffnet den Blick für hybride (Lebens)Formen und verleiht den in ihren Arbeiten transportierten Themen und Diskursen höchste Integrität.
In der Tanzserie „Dreaming of …“ (2014) thematisiert Abou-Chamat kulturelle Gegensätze und provoziert die damit verbundenen Vorurteile. In der mehrteiligen Fotoserie übt eine Tänzerin in schwarzer Abaja und Niqab, die extremen Positionen des klassischen europäischen Balletts ein. … Die weit verbreitete Vorstellung Niqab und Abaja würden den Körper negieren und einschränken, wird durch die Konfrontation mit den eng anliegenden, rosafarbenen Spitzenschuhen, in die die weiblichen Füße hineingepresst werden, offensichtlich in Frage gestellt. Welche Kultur diszipliniert und unterdrückt den Körper mehr? Die arabische mit der Verhüllung des Körpers oder die europäische mit ihrer Normierung, die gerade im klassischen Ballett am deutlichsten sichtbar wird: Das klassische Ballett organisiert den Körper im Raum nach vorgegebenen Schemata, die häufig geometrischer Natur sind. Für letzteres stehen extreme Grundpositionen und Körperbewegung wie das „En dehors“, das Auswärtsdrehen der Beine aus dem Hüftgelenk oder die unorganische Figur der „Arabeske“. Ähnlich wie der arabische Kleiderkanon des Verhüllens und Verbergens, erzeugt auch das optisch zwar körperbetontere Ballett ebenfalls „mit Ideologie aufgeladene Zeichen, welche Vorstellungen von Schönheit, Moral und … Vernunft in sich bergen“.
Abb.5: Matthias Megyeri, Archive of Fences, Installation, Diaprojektion (ongoing project)
Abb. 6: Postkarte „Sicher Neuhausen“ produziert anlässlich der Ausstellung 2015
Seit zehn Jahren arbeitet Matthias Megyeri an einem Archiv der Zäune, Absperrungen und Überwachungstechnologien. Neben den unterschiedlichen Designs, Materialien und Gestaltungsformen, mit denen der private vom öffentlichen Raum abgrenzt wird, interessieren ihn auch die sozialpsychologischen Aspekte, die zu diesen wehhrhaften Alltagsformen und Kontrollszenarien führen. Unter dem Label «Sweet Dreams Security®» stellt Megyeri für schutzbedürftige Kunden auch ästhetisch ansprechende Zäune, Stacheldrähte und Vorhängeschlösser zur Verfügung. Für den KV Neuhausen entwarf er im Stil der touristischen Ansichtskarte eine Postkarte, die das Kontroll- und Sicherheitssystem in der Filderkommune kommentiert.
Abb. 7: Christian Hasucha, Slubfurt 1, Probewohnen in Slubfurt*, 2005
«Die Loggia auf dem Platz der Helden in Slubfurt ist nach Westen hin ausgerichtet. Klappstühle, Tisch und Grill stehen bereit. Wir hatten Geschirr und Thermoskanne mitgebracht und verbringen den sonnigen Spätnachmittag in Rufweite des Denkmals gegen den Faschismus». (C. Hasucha)
* Slubfurt ist ein Kunstwort von Michael Kurzwelly, zusammengesetzt aus Slub(ice, Polen) und (Frank)furt an der Oder.
English Version
Borders are usually defined precisely by political or geographical lines and have separating as well as integrating and exclusive properties. However, limits are also imaginary nature: they are based on traditional ideas, prejudices and illusions. The „boundaries in the head“ are, according to the philosopher Dietmar Kamper, „indestructible“. Boundaries define themselves by contrasts between here and there, the known and the unknown, between legality and illegality, between reality and fiction.
„Borders are much more than what you can see at barriers, fences and walls. They consist of visible and invisible lines “ (Henning Ottmann)
The artists have been working for a long period with different boundary phenomena, f.e. physical and mental border crossings, which are located both in the aesthetic, the geo-political as well as in the socio-political and (inter) subjective field. In some examples, legal possibilities and limitations are explored between the public and the private as well as between territorial and inter-state relations. The Border Project „Granizza“ (2004) by Hans Winkler, for example, based on the staging of a car accident occurring directly on the border between Germany and Poland. This scenic intervention triggers a crisis situation on the intractable issues of justice and injustice, of official responsibilities and legal opinions.
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With contributions of:
Adidal Abou-Chamath, DAAR (Decolonizing Architecture Art Residency), Christian Hasucha, Matthias Megyeri, Ivan Moudov, Konrad Mühe, José Palazón, Katrin Ströbel & Mohammed Laouli, Hans Winkler
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Abb.8: Blick in die Ausstellung /Exhibition View
Abb.9: DAAR (Decolonizing Architecture Art Residency) Lawless Line, 2009/2012
DAAR is an architectural studio and art residency programme based in Beit Sahour, Palestine. DAAR’s work combines conceptual speculations and pragmatic spatial interventions, discourse and collective learning. DAAR explores possibilities for the reuse, subversion and profanation of actual structure of domination: from evacuated military bases to the transformation of refugee camps, from uncompleted governmental structures to the remains of destroyed villages.
Der 2009 von DAAR produzierte Film handelt von der am Reißbrett gezogenen ca. 5 Meter breiten Grenzlinie zwischen der Westbank und Israel. Die Kamera folgt dieser Linie, erzählt ihre Geschichte, die dahinterstehenden politischen Interessen, die Verhandlungen und Verträge, die immer wieder gebrochen werden und vor allem die Radikalität wie die im Film mit Rot markierte Linie, durch historische Gebäude und einen legendären Gerichtshof gezogen wurde. Es ist letztendlich aber auch ein gesetzesfreier Streifen Land, Niemandsland, auf dem ungestraft getötet werden darf.
Alessandro Petti (geboren in Italien) ist Architekt, Urbanist und Direktor von „Campus in Camps“. Er ist Gründungsmitglied und Direktor von DAAR (Decolonizing Architecture Art Residency), einem Kunst- und Architekturkollektiv sowie Artist-in-Residence-Programm, das Diskurs, räumliche Intervention, Bildung, kollektives Lernen, öffentliche Versammlungen und juristische Fragestellungen miteinander kombiniert. DieDAAR-Projekte werden in zahlreichen Museen und Biennalen überall auf der Welt gezeigt.
Sandi Hilal (geboren in Palästina) ist als Architektin in Bethlehem tätig. Sie ist Beraterin für UNRWA (Hilfswerk der Vereinten Nationen für die Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten), Gastprofessorin am Al-Quds/Bard College, Palästina, sowie Gründungsmitglied von DAAR und „Campus in Camps“. Sie ist Ko-Autorin verschiedener Forschungsarbeiten, unter anderem „Stateless Nation“ mit Alessandro Petti und „Border Devices“ mit Multiplicity, die international veröffentlicht und ausgestellt werden.
Eyal Weizman (* 1970 in Israel) ist ein israelischer Architekt und Schriftsteller. Weizman arbeitet als Architekt und Direktor des Center for Research Architecture am Goldsmiths College der Universität London. Er ist freier Redakteur und arbeitet u. a. für das Cabinet-Magazin. Weizman steht in engem Kontakt mit Menschenrechtsorganisationen in Israel und Palästina. Für ihn ist israelische Architektur auf dem Gebiet der Palästinenser „in Material gegossene Politik“.
BLURRING BOUNDARIES konnte realisiert werden durch die freundliche Unterstützung:
Kommune Neuhausen/Fildern
Regierungspräsidium Stuttgart/Land Baden-Württemberg;
Volksbank Filder eG, Neuhausen
Institut für Auslandbeziehungen, Stuttgart
Malerwerkstätten Heinrich Schmid GmBH & Co.KG, Altbach
rentES Sicherheitssysteme, Neuhausen. Powered by THW Neuhausen